Neu in der Bibliothek des IAI: das mexikanische Musik- und Kulturmagazin Piedra Rodante

Sex, Drugs & Rock ’n‘ Roll wurde zum geflügelten Wort einer neuen Jugend- und Protestkultur, die nicht allein auf den nordamerikanischen Raum limitiert war, sondern sich weit über den Globus erstreckte. Auch in Mexiko gab es ab den 1960er Jahren immer mehr Menschen, die sich nach dem Massaker von Tlatelolco in Mexiko-Stadt einer Gegenbewegung zugehörig fühlten, die (mexikanische) Rockmusik mit politischem Protest und nonkonformen Lebensstilen verband. Lebhafte Einblicke in diese Protestbewegung bietet die in den frühen 1970er Jahren veröffentlichte Zeitschrift Piedra Rodante. Einige Hefte dieses eindrucksvollen Kultur- und Musikmagazins konnte das IAI nun für seine eigenen Sammlungen erwerben.

Piedra Rodante, 1971, Vol.1, Nr. 7 © Ibero-Amerikanisches Institut

Gegründet vom mexikanischen Psychologen Manuel Aceves erschien dieses Magazin erstmalig im Dezember 1970 und ähnelte stark der wenige Jahre zuvor ins Leben gerufenen US-amerikanischen Zeitschrift Rolling Stone (1967): das mexikanische Pendant trug nicht nur den gleichen, ins Spanisch übersetzten Titel, sondern orientierte sich auch in Inhalt, Struktur und Aufbau an seinem bekannten US-amerikanischen Vorreiter. Bleibt unklar, ob Aceves hierbei die Erlaubnis des ‚Gringo-Rolling Stone‘ besaß oder auf eigene Faust handelte, so entwickelte sich das mexikanische Kulturmagazin ebenso rasch zu einer bedeutenden Kommunikationsplattform der mexikanischen Gegenkultur, zu der sich beispielsweise jipitecas, mexikanische Hippies, oder Sympathisanten und Sympathisantinnen der künstlerisch-literarischen Bewegung „La Onda“ zählten. Als erste unabhängige Zeitschrift ihrer Art fand die Zeitschrift im gesamten lateinamerikanischen Kontinent und in Spanien Verbreitung, sie hatte eine monatliche Auflage von 50.000 Exemplaren mit Extraauflagen, so im Impressum der Nummer 7 (1971) der Zeitschrift, in New York, Spanien, Zentral- und Südamerika. Zum Teil wurde die Zeitschrift auch in den Schulen verbreitet, ansonsten war sie für vier mexikanische Pesos erhältlich.

An der Zeitschrift war eine Reihe an Intellektuellen und Kunstschaffenden aus dem Umfeld der „La Onda“ beteiligt, darunter beispielsweise der chilenische Filmregisseur Alejandro Jodorowsky, der mexikanische Philosoph und Geistliche Enrique Marroquín, der mexikanische Schriftsteller José Agustín Ramírez Gómez oder die mexikanische Schriftstellerin Elsa Cross. Als Mitglied von Underground Press Syndicates, Cosmic Circuit, Liberation News Service, Alternative Features Service war die Zeitschrift ebenfalls in ein grenzübergreifendes Netzwerk von unabhängigen Verlagen und Pressediensten eingebunden, welche einen große Bedeutung für die Verbreitung der Inhalte von linken Anti-Kriegs- und Protestgruppen hatten und so zur transnationalen Vernetzung dieser Bewegungen beitrugen.

Die in der Piedra Rodante behandelten Themen begrenzten sich keinesfalls nur auf Rockmusik und die aufblühende Rockszene in Mexiko, sondern schlossen auch zeitgenössische klassische Musik, Literatur sowie Meinungsartikel zu Themen, welche im Mexiko der frühen 1970er Jahre als Tabu galten: freier Drogenkonsum sowie seine Legalisierung, sexuelle Selbstbestimmung, Frauenrechte, Religion, Abtreibung oder Politik. Das Magazin traf den Zeitgeist: Nach der Revolution 1910 hatte sich die mexikanische Gesellschaft in hohem Maße verändert, mit der Modernisierung des Landes gingen auch gestiegene Erwartungen an den mexikanischen Staat einher. So kämpfte die Arbeiterklasse gegen die veralteten Industriestrukturen und für bessere Löhne und Arbeitsschutz, während die gewachsene mexikanische Mittelschicht gegen die Monopolpartei PRI (Partido Revolucionario Institucional) und deren Regierungsstil rebellierte. Diese agierte seit den 1960er Jahren zunehmend autoritär und reagierte mit Gewalt und Unterdrückung auf die Partizipationsbestrebungen von Andersdenkenden. Die Repression eskalierte im Massaker von Tlatelolco am 2. Oktober 1968, bei dem etwa 300 demonstrierende Studierende ermordet wurden. Die Studierendenbewegung ging in Folge in einer Gegenkultur auf, die mit ihren kulturellen Praktiken – Musik, Sexualleben, Kleidung, Frisuren – die von der PRI regierte mexikanische Gesellschaft mit ihren veralteten Normen und Moralvorstellungen immer wieder herausforderte. Das Magazin ist Zeugnis dieser zeitgenössischen Gegenkultur.

Einen Höhepunkt erlebte diese Bewegung beim Rock- und Kulturfestival Festival Rock y Ruedas de Avándaro, kurz „Avándero“, das am 11. und 12. September 1971 am gleichnamigen See in der Valle de Bravo stattfand und als Meilenstein der mexikanischen Rockgeschichte bezeichnet wird. Geschätzt 200.000 Menschen pilgerten zum „mexikanischen Woodstock“, wo sie Musik, offenen Drogenkonsum, Frieden und freie Liebe feierten. Große Aufmerksamkeit erhielt das Event nicht allein aufgrund der Tatsache, dass der mexikanische Präsident 300 Busse zum Rücktransport der Festivalbesucher und -besucherinnen zur Verfügung stellte und so die seltene Zustimmung der ansonsten eher regierungskritischen jipitecas erhielt, sondern auch deshalb, da die Veranstaltung heftige Kontroversen in der mexikanischen Öffentlichkeit auslöste. Beim Festival gespielte Lieder wie Marihuana oder We Got the Power wurden in manchen Teilen der mexikanischen Gesellschaft für ihre vermeintliche Verbindung zu subversiven Bewegungen und die Glorifizierung von Drogen vehement verurteilt, in politischen Kreisen stand zudem die Durchführung weiterer Festivals dieser Art zur Debatte. Trotz der ersten Unterstützung verurteile Präsident Echeverría das Festival im Nachhinein scharf und ging im Folgenden äußerst repressiv gegen die Bewegung „La Onda“ vor. Massenversammlungen wurden ebenso verboten wie Musiklieder mit Bezug zum „Avándaro“. Diese angespannte Situation und die Repression gegen Gruppen der mexikanischen Gegenkultur ist mittlerweile als „El Avandarazo“ bekannt.

Im Zuge des „Avandarazo“ musste auch die Zeitschrift Piedra Rodante, die das Festival ausführlich dokumentierte, nach insgesamt zehn Ausgaben ihre Arbeit einstellen. 8 Ausgaben, die Hefte 1-8, stehen im Normalfall bei der Stony Brook University digital zur Verfügung (momentan funktioniert der Zugriff leider nicht). Einige Originalhefte, darunter die bei Sammlern und Sammlern begehrte Ausgabe zum Avándaro-Festival, finden sich nun in der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts und können nach Bestellung über unseren Bibliothekskatalog zur Einsicht in den Lesesaal bestellt werden. Wir wünschen viel Freude mit dieser, wie es als Untertitel hieß, „Zeitschrift des Gefühlslebens“, die mit ihren thematisch vielfältigen Artikeln und mitunter farbenfrohen Werbungen interessante Einsichten in die zeitgenössische Geschichte Mexikos erlaubt. Wer sich weiter für die brasilianische Version des Rolling Stone interessiert, die in der selben Zeit von 1971 bis 1973 interessiert, kann sich im digitalen Archiv, in dem die Zeitschrift in ihrer Gesamtheit digital zur Verfügung steht, umsehen.  

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Die textlichen Bestandteile dieses Beitrags werden unter der CC-BY-NC-Lizenz veröffentlicht. Die hier zur Verfügung gestellten Bilder sind im Besitz des Ibero-Amerikanischen Instituts.