Truhe, Sammlung, Wunderkiste: das Projekt Satnu

Schon für heutige Sprecher*innen des Deutschen oder des Französischen ist es schwierig, Texte in älteren Sprachstufen zu lesen: Die Merseburger Zaubersprüche oder die Straßburger Eide sind zunächst nicht verständlich. Umso mehr gilt dies für Sprachen, deren Schrifttraditionen und Überlieferungen unterbrochen oder fast verschwunden sind.

So treffen aufgrund historischer und politischer Entwicklungen heutige Sprecher*innen indigener Sprachen auf zahlreiche Schwierigkeiten bei der Lektüre von alten Dokumenten. Schriftliche Traditionen rissen nach der Unabhängigkeit Mexikos ab oder gerieten in Vergessenheit. Heute sind fehlendes Wissen über die Existenz der historischen Dokumente, andauernde Diskriminierung der Sprachen sowie komplexe, neu entstandene Schreibtraditionen in den indigenen Sprachen mögliche Ursachen für Hindernisse.

Hier setzt Satnu an: Ziel des Projekts ist es, Digitalisate von kolonialzeitlichen Dokumenten in mesoamerikanischen Sprachen allen Interessierten ortsunabhängig zur Verfügung zu stellen. Damit sollen das Studium indigener Sprachen und Kulturen gefördert, ihr Wert und ihre Relevanz hervorgehoben und das Kulturerbe indigener Gemeinschaften bewahrt werden. Ein begleitendes akademisches Programm fördert Leser*innen und Philolog*innen.

Die Ursprünge des digitalen Repositoriums von Satnu gehen auf den Linguisten und Zapotekisch-Forscher Michel Oudijk zurück, der zusammen mit anderen Spezialist*innen ein Inventar der bekannten Dokumente in mesoamerikanischen Schriften und Sprachen erstellte. 2008 fand das Projekt teilweise seinen Abschluss und wurde als Wikifilológicas veröffentlicht, eine Website des Instituto de Investigaciones Filológicas (IIFL) der Universidad Nacional Autónoma de México, die einen Katalog mesoamerikanischer Bilderhandschriften und alphabetischer Texte in zapotekischer Sprache bietet. Die Ausbaumöglichkeiten dieses Projektes waren jedoch begrenzt, insbesondere die Textsammlung betreffend.

2012 wurde das aktuelle Projekt zunächst mit dem Namen Filología de lenguas otomangues y vecinos (FILOV) ins Leben gerufen, eine Kooperation zwischen dem Instituto de Investigaciones Filológicas der UNAM und der Biblioteca de Investigación Juan de Córdova der Fundación Alfredo Harp Helú Oaxaca (FAHHO). Auf der Grundlage der seit den 1970er Jahren von Forschern geleisteten Arbeit zur Identifizierung und Untersuchung von Dokumenten in zapotekischen, mixtekischen und anderen mesoamerikanischen Sprachen haben sich Michel Oudijk, Sebastián van Doesburg und Michael Swanton die Aufgabe gestellt, ein möglichst vollständiges Inventar von Verwaltungsurkunden aus dem kolonialzeitlichen Oaxaca zu erstellen. Dabei sind die Sprachen Zapotekisch, Mixtekisch, Chocholtekisch und Nahuatl vertreten.

Seit 2015 erhält das Projekt besondere Förderung von der FAHHO. Diese Unterstützung ermöglicht es, weitere Digitalisierungen vorzunehmen, so z.B. im Historischen Archiv der Justiz des Staates Oaxaca (AHPJO). Unter anderem aufgrund dieser Arbeit wurde die Sammlung von Dokumenten in mesoamerikanischen Sprachen des AHPJO 2018 vom mexikanischen Komitee der UNESCO als Weltdokumentenerbe („Memory of the World“) anerkannt.

Die Dokumente in Satnu sind suchbar nach Sprachen, Jahrhunderten, Regionen, Dokumenttyp und Sammlung. Außerdem steht eine hochkomplexe Suche nach Dublin-Core-Kategorien zur Verfügung. Die Ergebnislisten wiederum können nach Autor, Chronologie, Dokumententitel und anderen Kriterien sortiert werden. Die Anzeige des Dokuments erfogt in einem Viewer, daneben und darunter werden umfangreiche Metadaten geliefert. In die Zukunft gedacht ist das – aktuell meist noch leere – Feld für die Transkription, in das xml-codierte Textdaten eingestellt werden können. Damit werden die Originalmanuskripte auch für Laien deutlich besser zugänglich.
Alle Dokumente stehen unter der CC-Lizenz BY-N-SA 2.5 Mexico.

Die Weiterentwicklung von Satnu beinhaltet die Kooperation mit indigenen Kulturaktivist*innen, die Aufnahme von Dokumenten unter anderem in den Sprachen Chontal, Purhepecha, Otomí und Matlatzinca sowie die Zusammenarbeit mit dem Colegio de Michoacán.

Das Projekt wird begleitet durch Kurse in kolonialzeitlichem Zapotekisch, die in den Gemeinden abgehalten werden. Hervorzuheben sind auch die seit 2019 stattfindenden Seminare der Biblioteca de Investigación Juan de Córdova und des Instituto de Investigaciones Filológicas der UNAM, in denen Sprecher*innen des Mixtekischen und Zapotekischen mit Linguist*innen, Philolog*innen und Historiker*innen zusammentreffen. Durch Schulungen in philologischen Techniken wird der Zugang zu den historischen Dokumenten erleichtert.

Satnu (mixtekisch für: Truhe) wird damit zu einem virtuellen, aber auch realen Ort der Bewahrung, des Zugangs und des Teilens.