Stimmen aus der Vergangenheit: das Archivo de la Palabra

Walzen aus Zinn, Wachs und Zelluloid: Zwischen 1880 und 1910 verbreiteten sich Phonographen und die zugehörigen Walzen in ganz Europa und Amerika. Erstmals konnte man Ton aufzeichnen, die Aufnahmen archivieren und später auch vervielfältigen. Dadurch entstanden ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Tonarchive und wissenschaftliche Schallarchive: das Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1899), das Musée Phonographique (1900) und das Musée de la Parole (1911) in Paris, das Phonogramm-Archiv (1904) und die Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek (1920; heute Lautarchiv der Humboldt-Universität).

Norman Bruderhofer, www.cylinder.de , CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=427395

Das Berliner Phonogramm-Archiv beherbergt heute mit über 150.000 Aufnahmen eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen von Tondokumenten. Den Grundstein dafür legte 1900 der Psychologe Carl Stumpf, als er mit einem Edison-Phonographen eine in Berlin gastierende Gruppe thailändischer Musiker und Schauspieler aufnahm. Stumpf und sein Schüler Erich Moritz von Hornbostel gründeten 1904 das Phonogramm-Archiv, das zunächst verwaltungstechnisch dem Psychologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) angeschlossen war. Die Bestände blieben Privateigentum von Stumpf und Hornbostel. 1923 erwarb der Staat Preußen das Archiv und unterstellte es der Verwaltung der Musikhochschule in Berlin-Charlottenburg. Hornbostel übernahm die Stelle des Leiters. Durch die Nationalsozialisten zur Emigration gezwungen, lebte er in den USA und in Großbritannien und prägte viele Generationen von Musikwissenschaftlern. Bekannt ist er heute u.a. durch die zusammen mit Carl Sachs entwickelte Hornbostel-Sachs-Systematik zur Klassifizierung von Musikinstrumenten.

Das Schicksal des Exils verbindet Hornbostel mit dem Spanier Tomás Navarro Tomás (1884-1979). Der Philologe war eine der großen Persönlichkeiten der spanischen Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit seinem Lehrer Ramón Menéndez Pidal publizierte er die Revista de Filología Española und den Atlas Lingüístico de la Península Ibérica. Seine organisatorischen Fähigkeiten stellte er von 1922 bis 1936 als Direktor der Bibliothek des Centro de Estudios Históricos und ab 1936 als Direktor der spanischen Nationalbibliotek unter Beweis. Nach der Niederlage der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg verließ er zusammen mit anderen Intellektuellen, u.a. der Familie von Antonio Machado, Spanien und ließ sich schließlich in den USA nieder, wo er bis zu seinem Tod blieb. In der spanischen Öffentlichkeit ist Tomás Navarro Tomás aber weniger für sein philologisches Werk als vielmehr für das Archivo de la Palabra bekannt.

Mit dem asturischen Folklore-Forscher Eduardo Martínez Torner begann Navarro Tomás ab 1930 am Centro de Estudios Históricos eine Sammlung von Tonmaterialien aufzubauen, die Informationen über Sprache, Volkskunde, Musik und über die spanische Kultur insgesamt liefern sollten. Die vier Schwerpunkte waren: die spanische Sprache in ihren künstlerischen Erscheinungsformen; Sprachen und Dialekte der Iberischen Halbinsel und anderer spanischsprachiger Länder; Sprachaufnahmen mit persönlichen Zeugnissen berühmter Persönlichkeiten sowie traditionelle Lieder und Melodien.

Für die Tonaufzeichnungen wurde ein Vertrag mit der Columbia Gramophone Company geschlossen und eine ihrer technischen Anlagen im von Navarro Tomás geleiteten Phonetiklabor des Centro de Estudios Históricos installiert. Hier zeichnete man die Stimmen von Schriftstellern, Schauspielern und Wissenschaftlern auf, darunter Pío Baroja, Azorín, Miguel de Unamuno, Ramón del Valle-Inclán, Ramón Menéndez Pidal, Santiago Ramón y Cajal, José Ortega y Gasset und Margarita Xirgu.

Diese und andere Aufnahmen sind auf zwei CDs zu hören, die das Buch „Voces de la Edad de Plata“ (Publicaciones de la Residencia de Estudiantes, 1998) begleiten. Außerdem sind spanische Dialekte und volkskundliche Texte zu hören, also das ganze Spektrum des Archivo de la Palabra. Das Buch skizziert die Geschichte des Archivs, stellt die SprecherInnen in Kurzbiographien vor und druckt die Texte ab, die auf den CDs zu hören sind. Porträtfotografien der SprecherInnen sowie Fotos der Feldforschungen, bei denen die volkskundlichen Tonaufnahmen entstanden, runden die Publikation ab.

Weiter lesen und hören:
Alfredo Valverde: El Archivo de la Palabra y las canciones populares, in: Revista Residencia, Nr. 6.

Radio Nacional de España: Tomás Navarro Tomás y el histórico Archivo de la Palabra.
Die Dokumentation von Julia Murga aus dem Jahr 2016 präsentiert Originalaufnahmen, u.a. von Unamuno, Cajal, Azorín, Baroja und Juan Ramón Jiménez sowie erstmalig die Stimme von Navarro Tomás selbst, außerdem Interviews mit Forscherinnen und Archivarinnen.