Mehr Milch trinken und auf die richtige Körperpflege achten: Ausstellung „Popularização da Política de Saúde na Era Vargas“ im Lesesaal des IAI

Seit dem 2. August ist im Lesesaal des Ibero-Amerikanischen Instituts (IAI) die neue Ausstellung „Popularização da Política de Saúde na Era Vargas“ zu sehen. Ausgehend von der Analyse verschiedener Materialien, wie Plakaten, Kulturzeitschriften und literatura de cordel[1]sowie Videos und Fotografien, wirft sie einen multidisziplinären Blick auf die Gesundheitspolitik des Estado Novo, also dem autoritären Regime von Getúlio Vargas, das zwischen 1930 und 1945 Brasilien regierte. „Die Ursprungsidee, dieses Thema in einer Ausstellung darzustellen, geht auf ein Konvolut zur Gesundheitsprävention aus Brasilien in unserer Plakatsammlung zurück, das uns sehr fasziniert hat“ So Dr. Ricarda Musser, Länderreferentin für Brasilien und Initiatorin dieses materialbasierten Ausstellungsprojekts. Die Plakate, die z.T. schon seit Ende der 1950er Jahre im Bestand des IAI sind, scheinen Vehikel für „Aufklärungskampagnen gewesen zu sein, die in der Zeit die Bevölkerung auf Krankheiten hinweisen sollten, wie man sie vermeiden kann, was gute Hygiene ist“ erklärt Gunther Kunze, der an der Konzeption der Ausstellung mitgewirkt hat.

Die Gesundheitspolitik des Vargas-Regimes muss vor dem Hintergrund seines Modernisierungsprojekts für Brasilien betrachtet werden. Im Sinne einer Stärkung der Nation und des „neuen“ (brasilianischen) Menschen, konkretisierte sich die große Relevanz des Themas in der Zentralisierung und Institutionalisierung der Gesundheitspolitik. 1937 wurde das Ministério da Educação e Saúde, also Ministerium für Gesundheit und Erziehung, unter der Leitung von Gustavo Capanema gegründet, mit dem Ziel die Gesundheit zu fördern und Hygienebedingungen in der Bevölkerung zu verbessern, um Krankheiten vorzubeugen und so gesunde Arbeiter für Brasilien zu heranwachsen zu lassen. Zeugnisse dieser Bemühungen seitens der Zentralverwaltung finden sich in diversen Medien, präzisiert Dr. Ricarda Musser, wie Magazine, Kinderzeitschriften und literatura de cordel. Beispiele dafür sind in der Ausstellung zu sehen und werden noch durch Fotografien aus dem Archiv der Fundação Getúlio Vargas (Rio de Janeiro).

Vargas’ Modernisierungsbestrebungen haben sich durchaus positiv auf Infrastruktur und Industrie ausgewirkt. Auch das Fundament für einen modernen Sozialstaat wurde in dieser Zeit gelegt. Die Ausstellung beleuchtet aber auch die problematischen Aspekte der ‚Modernisierung‘. In die Vorstellung einer „Verbesserung“ der Bevölkerung flossen nämlich auch sozialdarwinistische Diskurse. Vor allem die Theorie der „Degeneration“ hat ganz entscheidende Impulse für die Gesundheitspolitik gesetzt, die sich z.B. in verpflichtenden Syphilis-Tests vor der Eheschließung oder in der starken Reglementierung der Prostitution manifestierten.

Ausstellungsteam von Links nach Recht: Dr. Ricarda Musser, Gunther Kunze, Dr. Philipp Kandler und Isabella Maasberg.

So wurden, erklärt Gunther Kunze weiter, „alle, die sowieso schon am Rand der Bevölkerung gelebt haben, […] zusätzlich stigmatisiert“. Diskurse über Körper und Gesundheit greifen in der ersten Hälfte des 20. Jh. häufig das Thema der Eugenik auf. Für Dr. Philipp Kandler, Bibliotheksreferendar am IAI, ist dies aber keine brasilianische Angelegenheit, sondern in den Amerikas und Europa (und vermutlich auch darüber hinaus) in diesem Zeitraum ein wichtiges Thema“.

Die Mission der Modernisierung wurde allen Gesellschaftsmitgliedern übertragen: Die Männer sollten das Land voranbringen, Frauen sollten sie dabei unterstützen und vor allem gesunde Kinder zur Welt bringen, die sich als Erwachsene wiederum produktiv in den Arbeitsmarkt einbringen sollten. Laut Isabella Maasberg, wissenschaftliche Hilfskraft am IAI, hatte die Gesundheit der Frau bis dahin noch nie im Fokus gestanden. Nun aber spielte die Frau „eine wichtige Rolle, weil sie mit der Pflege der Familie betraut war und ohne sie gäbe es keine Kinder und keine Nachkommen, die für das Land arbeiten“. I diese und auch anderen Aspekten der Frauenhygiene lässt sich an vielen der Plakate ablesen.

Das Thema Gesundheitspolitik hat natürlich im Zuge der COVID-19-Pandemie eine neue Relevanz bzw. Sichtbarkeit erhalten. Viele von uns haben sich möglicherweise noch nie zuvor so intensiv mit Theorien, Modellen und Fachbegriffen aus der Medizin befassen müssen. Den Medien kam daher eine entscheidende Vermittlungsrolle zu. Auch im Brasilien des 20. Jh. wurde die Gesundheitspolitik des Vargas- Regimes der Bevölkerung durch verschiedene Formate der Populärkultur vermittelt, welche die gesundheitsbezogene Diskurse ihrer Zeit reflektieren. „Die staatlichen Maßnahmen, unabhängig in welchem Politikfeld sie stattfinden und unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Begründung, sind immer politische Entscheidungen, die (auch) ein politisches Ziel verfolgen und damit Prioritäten setzen“ reflektiert Dr. Kandler weiter. Die Ausstellung bietet nun einem breiteren Publikum die Möglichkeit sich mit diesen Materialen auseinanderzusetzen, sie innerhalb ihres historischen und kulturellen Kontexts, aber auch aus heutiger Perspektive zu interpretieren.

Die Ausstellung ist komplett auf Portugiesisch und im Lesesaal de IAIs noch bis zum 09.09.2023 zu besuchen (Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr und Samstag von 8 bis 13 Uhr). Ab dem 19. September werden die Tafeln dann auch auf dem 15. Lusitanistentag in Westsächsischen Hochschule Zwickau (HWZ) zu sehen sein.


[1] Kleine und i.d.R. im Selbstverlag produzierte Hefte, die, in reimender Sprache, alltägliche bis gesellschaftlich relevante oder polemische Themen humoristisch beleuchten und heute noch in Brasilien weit verbreitet sind. Der Name dieser Literaturform geht auf die Tatsache zurück, dass diese Hefte früher häufig auf Schnüren aufgehängt präsentiert und verkauft wurden.