Der Weihnachtsmann in den Tropen: Weihnachten in der brasilianischen Literatura de cordel

Von Gunther Kunze und Ulrike Mühlschlegel

Literatura de cordel: Ihren Namen verdankt diese Literaturgattung den Bindfäden, an denen die kleinen Heftchen auf Straßenmärkten und an Kiosken aufgehängt wurden, um sie der Kundschaft zu präsentieren. Ausdrucksstarke Holzschnitte oder heute auch farbige Fotografien werben auf den Titelblättern für die Inhalte. Die Hefte sind meist von geringen Umfang (8 bis 32 Seiten) und die Texte kommen ausschließlich in Reimform vor. Dies unterscheidet die brasilianische literatura de cordel von ihren europäischen Vorläufern, den oft auf ein einzelnes Blatt gedruckten, volkstümlichen Erzählungen, die in Europa bereits ab dem 16. Jahrhundert zirkulierten.

In Brasilien bildete sich ein Genre heraus, das durch seine Vielfalt und seine Wandlungsfähigkeit beeindruckt: Sowohl beim mündlichen Vortrag aus gedruckten Cordel-Texten, wie ihn die Verkäufer der Heftchen auf den Märkten als Kaufanreiz präsentieren, als auch beim Verschriftlichen bisher mündlich tradierter oder aus dem Stegreif gedichteter Texte, das früher teilweise sogar als Diktat des schreibunkundigen cordelista an den Drucker/Verleger stattfand, steht es zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Themen erstrecken sich von traditionellen Mythen und volkstümlichen Legenden ländlicher Regionen bis zu den aktuellen Themen aus Politik, Fußball und der Bevölkerung der großen Metropolen. Sah es im 20. Jahrhundert zunächst so aus, als würde die literatura de cordel durch die Massenmedien Radio und Fernsehen verdrängt, hat sie inzwischen sogar ihren Weg ins Internet gefunden und die Diskussionsforen der entsprechenden Webseiten ermöglichen wieder die Interaktion zwischen Autor und Leser bzw. zwischen Vortragendem und Zuhörern. Außerdem wird Cordel zunehmend als wertvolle Ressource in der Wissensvermittlung sowohl im Schulsystem als auch in der Erwachsenenbildung erkannt. Da diese Tradition nur in einem ganz bestimmten geographischen und besonderen soziokulturellen Raum ihre volle Entfaltung gefunden hat, sind nicht alle Brasilianer:innen mit Sprache und Topoi der kleinen Hefte vertraut.

Das ländliche Vokabular, angereichert mit Technizismen aus dem Bereich Landwirtschaft, Viehzucht, Pferde, mit Archaismen und Regionalismen, reflektiert deutlich den Wandel der letzten 100 Jahre und integriert heute auch die Jugend- und Umgangssprache. Mit der Adaptation an ein neues Publikum in den brasilianischen Großstädten kam die gíria urbana dazu. Dennoch sind gerade Regionalismen des Nordostens weiterhin vertreten. Sie stehen für das Lokalkolorit, das Ursprüngliche der Gattung und deuten auf die Bewahrung grundlegender, traditioneller Elemente trotz Wandel und Annäherung an die neue Leserschaft.

Das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin verfügt über eine Sammlung von inzwischen ca. 10.000 Cordel-Heften: Der Grundstock dafür wurde in 70er Jahren durch die Sammlung Lundgren gelegt, die auch wertvolle Druckstöcke für die Holzschnitte auf den Titelbildern beinhaltet. Erweitert wurden diese Bestände durch diverse Schenkungen von Wissenschaftlern und der brasilianischen Botschaft sowie durch kontinuierliche weitere Ankäufe von Sammlungen und Einzelheften. Da außerdem eine Sammlung spanischer pliegos de cordel aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie entsprechender Textgattungen aus Argentinien („Biblioteca criolla“) und Mexiko (z.B. calaveras mit Illustrationen von José Guadalupe Posada) vorliegen, bieten sich gute Möglichkeiten für vergleichende Studien.

Weihnachten und der Weihnachtsmann (Papai Noel) sind ein häufiges Thema in der literatura de cordel. Dabei überwiegen die sozialkritischen Texte, deren bitteres Fazit ist, dass Wünschen nichts hilft, wenn man arm ist und der Weihnachtsmann nur für die Reichen da ist.

„A criança pobre chora
O seu drama cruciante
E o Tal PAPAI NOEL
Vindo de terra distante
É o Protetor dos Ricos,
Velho barbudo, pedante”

(O Natal de uma criança pobre)

Es finden sich Texte von Straßenkindern, die in der Weihnachtsnacht sterben, dabei aber noch von Lichtern und süßem Essen träumen, eine Übertragung des Motivs aus dem europäischen Kunstmärchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in die brasilianische Umgebung.

„Será que papai Noel
De min não vai lembrar?
Por que não tenho família
Papai mamãe nem um lar?
Não tenho endereço
Pra ele me procurar”

(O Natal do menino de rua)

In zahlreichen Texten wird der Diskrepanz zwischen Weihnachten in US-amerikanischen Hochglanzmagazinen und der Lebensrealität der marginalisierten Bevölkerung in Brasilien Ausdruck verliehen. Als Gegensatzpaar stehen dafür die dicken Stiefel des Weihnachtsmanns und die Sandalen tragenden Brasilianer.

„Você de roupa encarnada,
Colorida, Bonitinha
Nunca reparou qui a minha
Já tá toda remendada
Seja mais meu camarada
Prêu num chamá-lo de ruim
Para o ano faça assim:
Dê menos aos fio dos rico
De cada um tire um tico
Traga um presente pra mim”

(Carta a Papai Noel)

Andere Cordel-Texte erzählen die biblische Weihnachtsgeschichte nach. In die Kategorie „Bildung“ fällt A Lenda do Papai Noel em Literatura de Cordel von Pedro Costa (d.i. Pedro Nonato), das die Entstehung der Figur des Weihnachtsmannes in Europa darstellt und ihre Verschmelzung mit der Figur des Nikolaus und dessen Legende.

“Papai noel, o velhinho
Anda sempre sorridente
Em toda parte do mundo
Distribuindo presente
Ele não é jesus cristo
Mas tornou-se onipresente”

(A Lenda do Papai Noel em Literatura de Cordel)

Eine Besonderheit stellt Papai Cordel faz o Natal da Bayer von Maxado Nordestino (einer der Künstlernamen von Franklin Cerqueira Barreiros Machado) dar, in dem Dinge aufgezählt werden, die die Deutschen nach Brasilien gebracht haben: Bier, Würste, Sauerkraut, aber eben auch die Bilder von Weihnachten mit Schnee und Tannen und Weihnachtsmann – und die Fabriken von Bayer, die Medikamente produzieren (und anscheinend auch Cordéis in Auftrag geben).

„Me contratou [a Bayer] pra cantar
Pois sou profissional
Descendente da Europa
Do menestrel e jogral
Como poeta de feira
Que canta neste Natal.

Em folheto de Cordel
Numa rimada canção
Depois de ser bem impressa
Numa grande invenção
A desta tipografia
Do Gutemberg alemão.

O Natal de neve e árvores
Verdes do seu pinheirinho
Dos trenós e das lareiras
Por onde entra o velhinho
Papai Noel das crianças
Trazendo o presentinho“

(Papai Cordel faz o Natal da Bayer)

Als Abschluss sollen hier die Worte von Bráulio Bessa dienen, Dichter, cordelista und bekanntem „Botschafter“ der cultura nordestina, der 2017 in der Fernsehsendung Encontro com Fátima Bernardes folgenden Appell in Cordel-Form vorgetragen hat:

Eu sei que dar presente é bom.
Mas, bom mesmo é ser presente,
Ser amigo, ser parceiro
Ser o abraço mais quente
E permitir que nossos olhos
Não enxergue só a gente.

Que você, nesse momento,
Faça uma reflexão
Independente de crença, de fé, de religião
Pratique o bem sem parar!
Pois não adianta orar
Se não existir ação […]

Que você possa ser bom,
Começando de janeiro
E que esse sentimento seja firme e verdadeiro
Que a gente viva o Natal
Todo ano, o ano inteiro.

Das Team des FID Lateinamerika, Karibik und Latino Studies bedankt sich bei allen Leser:innen, Benutzer:innen, Unterstützer:innen und Kooperationspartner:innen und wünscht erholsame Feiertage und Gesundheit.

Literatur (in Auswahl)
Dinneen, Mark: Listening to the people’s voice: erudite and popular literature in North East Brazil. London/New York: Kegan Paul, 1996.
Dinneen, Mark: Brazilian woodcut prints. London/New York: Kegan Paul, 2001.
Musser, Ricarda: Stories on a string in Berlin: the Cordel Collection of the Ibero-American Institute. In: Shirey, Lynn (Hrsg.): Popular Culture: Arts and Social Change in Latin America. New Orleans: Tulane University, 2014, 45-49.
Musser, Ricarda: Zwischen Volkserzählung und Journalismus. Die brasilianische Literatura de Cordel. In: Tópicos 48:2, 2009, 61.
Mühlschlegel, Ulrike / Musser, Ricarda: De cómo la Donazela Teodora atravesó el mar, se casó con un cangaceiro y finalmente descubrió la cibernética en São Paulo. La literatura de cordel brasileña como medio de masas. In: Iberoamericana. América Latina – España – Portugal 2:6, 2002, 143-160.
Slater, Candace: Stories on a string : the Brazilian Literatura de Cordel. Los Angeles: University of California Press, 1982.